KUNSTFORUM INTERNATIONAL
BAND 82, DEZEMBER 1985 – FEBRUAR 1986, SEITE 300,
AMINE HAASE
NEUE KUNST IN DER EWIGEN STADT
Ein Bericht aus Rom
(Foto: Ilona Ruegg)
kunstforum.de/artikel/ein-bericht-aus-rom/
[soliloquy id=“2689″]Dieser Bericht aus Rom soll nicht die traditionellen Schätze der Ewigen Stadt (noch einmal) loben. Er möchte sich mit aktueller Kunst dort auseinandersetzen. Allerdings sich nicht an den (wenigen) offiziellen und bekannten Orten – von Ugo Ferrantis Galerie bis zu Bonito Olivas jüngsten Protégés in einer Ex-Fabrik im römischen Viertel von San Lorenzo (Fuori Le Mura). Vielmehr versucht er, ungewöhnlichen und außergewöhnlichen Kunst-Situationen in Rom nachzugehen.
Kunst braucht man in Rom nicht zu suchen; man kann sie gar nicht übersehen. Die Stadt ist ein Gesamtkunstwerk – mit Tradition. Anders ist es, wenn man nicht dem Ewigen Rom ungeteilte Aufmerksamkeit schenken will, sondern sich auch nach dem umsieht, was gerade in den Ateliers entsteht. Um zu prüfen, was sich vielleicht an die Kunstgeschichte anbinden läßt, ist der Rom-Besucher auf Eigeninitiative angewiesen. Dementsprechend subjektiv ist die Auswahl; die folgende kann nur Anregung sein.
Zum Beispiel der Kreis um Sergio Lombardo, der eine in Rom und über Italien hinaus bemerkenswerte Kunstrichtung vertritt. Lombardo ist Direktor der »Rivista di Psicologia dell’Arte«. Und in seiner Galerie »Jartrakor« – neben der Kirche San Agostiono in der Via dei pianellari – zeigt er regelmäßig, wie unter psychologischen Aspekten Kunst gemacht werden kann. Er interpretiert also nicht Kunst mit dem Vokabular der Psychologie, sondern benutzt – umgekehrt – die Psychologie als Element zur künstlerischen Produktion. Die Bausteine dieser Kunst sind mit psychologischem Instrumentarium berechenbar.
Zu den Künstlern um Lombardo gehört Giovanni Di Stefano. Er lädt zu Kunstaktionen ein, bei denen er mit verbundenen Augen versucht, einen vorgezeichneten Kreis mit Graphit auszufüllen – »prova di memoria«.
Die Zeit wird durch würfeln bestimmt; der Künstler kennt sie nicht. »Die Eigenbewegung erfolgt sequenzhaft. Je weiter er fortschreitet, desto rhythmischer wird die Eigenbewegung, das heißt, sie wird kreishaft, setzt sich in kreis-zwingender, fortwährender Bewegung fort. Anscheinend wird das Denken durch ein Innesein abgelöst … Einerseits scheint er immer der Gefangene seines Kreises zu sein, andererseits bricht er in seiner Handlung immer mehr aus … Die räumliche Dimension entsteht nicht so sehr durch räumlichen Darstellungswillen oder Tiefenwirkung, sondern vielmehr durch die Bewegung in der fortschreitenden Zeit.« (Das protokollierte eine Künstler-Kollegin (Ilona Ruegg), die der Aktion beiwohnte.)
Zum festen Team um Sergio Lombardo, das die Möglichkeiten des Spontanen im Objektiven erprobt, gehören auch die Medizinerin Anna Homberg und der Universitätsprofessor Cesare M. Pietroiusti. Beide legen ihre Theorien nicht nur in der »Rivista« dar, sondern setzen sie auch in Bilder um. Anna Homberg macht zum Beispiel Umfragen, welche Form »das Böse« oder welche Farbe »das Glück« haben kann. Aus den einzelnen Ergebnissen setzt sie das Bild eines Begriffs zusammen: ein neutrales Resultat, komponiert aus individuellen Mosaiksteinen. Oder Cesare Pietroiusti: Er sammelt Kritzeleien von Freunden, aus Telefonzellen, auf papierenen Trattoria-Tischdecken, Notizzettel aus Büros, Konferenzsälen und anderen Plätzen, wo Menschen ihrer Langeweile, Spannung oder Nervosität freien Lauf lassen. Der junge Professor überträgt die Fundstücke auf Leinwände, vergrößert sie, malt sie nach.
Lombardes Leitgedanke ist die Objektivierung von Kunst. Er selbst hat ein ganzes System eines Farben- und Formen-Repertoires, das präzisen Zahlen zugeordnet ist. Lombardo würfelt sozusagen seine Bilder: Die Zahlen des Würfels »diktieren« ihm Formen und Farben. Die Schlüssel zu den Bildern von Lombardo und auch zum Beispiel von Anna Homberg lesen sich streckenweise wie die Erläuterungen von Statistiken. Es sind Erklärungen: Was wie entstanden ist, woraus das Warum abgeleitet wird – völlig neutral. Bei den Arbeiten von Pietroiusti spielt das Warum – auf interpretatorischer Ebene – eine andere Rolle; die Frage danach kann an der Basis einer Deutung stehen. »Against Interpretation« (eine Forderung der Kunstkritik à la Susan Sontag in den sechziger Jahren) ist aber immer noch hohes Gebot in der Galerie Jaratrakor: Annäherung an die absolute Struktur des Zufalls (»Approssimazionae alla struttura casuale assoluta« heißt ein grundsätzlicher Artikel Lombardos in seiner »Rivista di Psicologia dell’Arte«.)
Vielleicht ist es der Öffnungsversuch eines ziemlich geschlossenen Systems, wenn in Lombardos Galerie Bilder von Rocco Salvia ausgestellt werden? »Le Grazie dell’Interno« sind schwarze Spuren, wie die »automatische« Aufzeichnung von Träumen – oder Alpträumen: Auf den ersten Blick sind es abstrakte Zeichen, in denen man lesen kann, wie in den Wolken oder in Tintenklecksen.
Jeder Betrachter kann sein Bild träumen auf der Folie eines formal vorgegebenen Vorschlags. Rocco Salvia hat Freunde, die auch malen – vorwiegend schwarzweiße Bilder, deren Formen sich auf wenige Zeichen beschränken. Sie versuchen, aus dem – in Rom gerade bedrückend gegenwärtigen – Angebot der Kunstgeschichte Anregungen aufzunehmen und sie in eine neue Sprache zu übersetzen. Manches sieht noch aus wie das vorsichtige Buchstabieren eines neuen ABC: Tastversuche, um selbständig gehen zu lernen – auch Reaktionen auf das allzu farbenfrohe Geschichtenerzählen einer in Italien zu Weltrekorden hochstilisierten »Transavantguardia« und einer wie Opas Bart gepflegten »pittura colta«.
Was Rocco Salvia und seine Freunde wollen, ist das einmalige Zeichen für die einmalige individuelle Situation finden, aber so formuliert, daß es als allgemein verständliches Signal empfangen werden kann. »Im Zentrum unserer Überlegung steht die Forderung, für die Malerei eine Sparsamkeit der Sinngebung – des Gefühls, der Bewegung – zurückzugewinnen, der ihr wieder die Qualität des Notwendigen gibt und auch eine Qualität der Wahrheit.« Das schreiben Antonio Capaccio und Mariano Rossano in einer kleinen Broschüre, einem Heft in der von Simonetta Lux geleiteten Reihe von Dokumenten zur zeitgenössischen Kunst, die von der römischen Universität unterstützt wird.
Offiziell werden junge Außenseiter der römischen Kunstszene nicht allzuoft gefördert. Der Platz ist ziemlich eng, auf dem sich eine neue junge Kunst ausbreiten kann in Rom. Der Weg nach Mailand, dem internationalen Umschlagplatz für Avantgarde-Kunst, ist mühsam. Und Exporte ins Ausland sind meistens Gruppenunternehmen, für die das gemeinsame Etikett oft wichtiger ist als künstlerischer Konsens. Der einzelne versucht, seine Idee in die Zukunft zu projizieren – in einer Stadt, die auf Ewigkeit setzt, fast ein Fall von Hochmut, aber faszinierend – und notwendig.
Zum Beispiel die Bilder und Skulpturen von Giovanni Asdrubali.
Auch er setzt Farbe sehr sparsam ein, arbeitet viel in Schwarzweiß; seine Zeichen wollen utopische Formeln sein. Das Vertraute läßt sich verwandeln, so daß es ein lunarisches Gesicht bekommt: Ein Lastwagenreifen, weiß besprayt, scheint von einem fremden Planeten zu kommen; Ellipsen und Ovale sind ins Unendliche geweitet; selbst der geschlossene Kreis hat nichts mit dem Erdenball zu tun, sondern ist eine utopische Form. In einer Stadt wie Rom beginnt die Zukunft mit der Vergangenheit; die Schwierigkeit, sich von ihr zu lösen, ist die Chance des Fortschritts. Die Erkenntnis ist leicht, schwer aber der Entschluß, sie zu akzeptieren. Der künstlerische Weg ist mit Antiquitäten gepflastert, verführerisch schön, und folglich scheint es kaum einen Grund zu geben, irgend etwas zu ändern.
Es ist eine Minderheit, die es zu entdecken lohnt, die gegen die Versteinerung der Formen zum leeren Ritual arbeitet – und im ritualisierten römischen Alltag nur am Rande geduldet ist. Ein paar Galerien geben den Außenseitern eine Chance – unter anderem La Salita, Sperone, L’Isola, die vor allem für ein Anknüpfen an die Avantgarde der sechziger und siebziger Jahre sorgt. Ein Künstler wie Eliseo Mattiacci arbeitet seit Jahren an einer Kunstutopie, deren Leitmotiv eines Ausbruchs aus herkömmlichen Formen der Kunstrezeption nicht ohne Folgen auf die zehn bis fünfzehn Jahre Jüngeren blieb. Mattiaccis Fähigkeit, reale Situationen aufzunehmen, um daraus Formen der Zukunft zu filtern, ist Vorbild geblieben (das der 1940 Geborene an der Akademie von Perugia als Professor weitergibt). Schon in den siebziger Jahren arbeitete er an der »Verarbeitung des Mythos« (»Recupere di un Mito« beschäftigte sich mit der Kultur der Indianer in ganz persönlicher Sicht – mit einem Doppelfernrohr unter die Erde, wo man Färb- und Pulverproben sah, in Muscheln gehäuft). Später widmete er seine Arbeit dem Mythos Zukunft – mit unkonventionellen Materialien und Formen.
Die Zukunft hat begonnen, auch in Rom, der Ewigen Stadt. Die Quellen der Inspiration sind unerschöpflich in dieser Stadt und in diesem Land, wo Zeit und Raum unermeßlich erscheinen: unter der Oberfläche brodelt es, und allzuoft fehlt die Energie zur produktiven Explosion. Die Veränderung in der Beständigkeit zu beobachten, macht – einen – der geistigen Anziehungspunkte Roms aus.